Oder: Wie ist er eigentlich so, „der Chinese“?!
Zunehmend scheint es mir, je länger ich mich in China aufhalte, desto weniger kann ich Aussagen über „die Chinesen“ treffen. Um nur mal ein paar recht simple Beispiele zu nennen:
„Chinesen sind bescheiden.“
Stimmt nicht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wer einmal beobachtet hat, wie ein neureicher Chinese aus einem gigantischen Spritschlucker steigt, mit beringten Fingern das gegelte Haar zurückstreicht, sein Markenhemd zurechtrückt, die Uhrzeit von iPhone und Rolex vergleicht, um dann in einem schicken Einkaufszentrum zu verschwinden, der weiß: Reichtum darf gezeigt werden, wenn man will.
„Chinesen geben an.“
Stimmt auch nicht. „Darin bin ich sehr schlecht“, „Ich kann das nicht so gut“, „Mich kann man in der Hinsicht vergessen“ und Ähnliches hört man öfter, wenn man Chinesen nach Fähigkeiten fragt.
„Chinesen sind offen und unkompliziert.“
Stimmt nicht. Aus Praktikum, Studium und überhaupt Leben hier kann ich sagen, manche sind schon eine echt harte Nuss.
„Chinesen sind total distanziert.“
Stimmt auch nicht. Gastfreundschaft wird hier großgeschrieben! Und dann gibt es da noch die unzähligen, letztlich freundlichen Kontaktversuche mit wehrlosen Deutschen, die eigentlich nur im Park lesen oder sich sonnen möchten, sich aber im Gespräch mit Chinesen über Deutschland, China und die Welt wiederfinden.
„Chinesen drücken sich nur durch die Blume aus.“
Stimmt nicht. Wer einmal mit einem herzlichen „Du hast zugenommen!“ begrüßt wurde, wird widersprechen. Und überhaupt, wenn man sich mal so umsieht: Da gibt es den Gast im Restaurant, der die Kellnerin fragt, ob die Trauben, die sie ihm vorsetzt, auch wirklich gewaschen sind, und den Fußgänger, der wehrlose Deutsche fragt, wie sie Diktatoren der Vergangenheit finden (seufz).
„Chinesen sind sehr direkt.“
Stimmt auch nicht. Der Klassiker: „Möchtest du Kuchen?“ – „Nein, danke.“ – „Ok, dann nicht.“ So geschehen zu Leipziger Zeiten zwischen einer chinesischen Freundin und mir, die ich gerade einen Kuchen gebacken hatte und mich wunderte, dass sie ihn nicht kosten wollte. Aber klar, es gehört zum guten Ton, erstmal abzulehnen. Der gute Gastgeber setzt dem Gast dann trotz allem ein Stück Kuchen vor; der Deutsche befördert den Kuchen in den Kühlschrank, für Leute, die ihn wirklich wollen.
„Chinesen legen Wert auf Hierarchien.“
Stimmt nicht. Angestellte gehen mit ihrem Chef zum Karaoke, Studenten mit ihrem Dozenten einen heben.
„Chinesen finden Hierarchien nicht so wichtig.“
Stimmt auch nicht. Einem Dozenten zu widersprechen, empfiehlt sich nicht.
„Chinesen sind trinkfest.“
Stimmt nicht. Vielen fehlt ein Enzym, das Alkohol abbaut. Sie werden nach ein wenig Bier rot im Gesicht (oder schlimmer).
„Chinesen vertragen keinen Alkohol.“
Stimmt auch nicht. Der übelste Schnaps, den ich in meinem ganzen Leben auch nur gerochen habe, stammt aus China und nennt sich baijiu 白酒. Er riecht nach einer Mischung aus Nagellackentferner und Klebstoff und ist in China überall erhältlich, was auf eine gewisse Nachfrage schließen lässt. Und tatsächlich: Manch ein Chinese kippt das Zeug weg, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wird steinalt.
„Chinesen mögen China und sind ganz patriotisch.“
Stimmt nicht. Chinesen finden China oft irgendwie komisch. Das ist natürlich nicht das gleiche wie eine organisierte politische Opposition, aber von Liebe zum Heimatland ist nicht in allen Fällen zu sprechen.
„Chinesen finden China gar nicht gut und würden am liebsten auswandern.“
Stimmt auch nicht. Chinesen, die von Reisen ins Ausland berichten, sind dem besuchten Land nicht unbedingt abgeneigt, aber dort zu leben, können sie sich nicht in allen Fällen vorstellen. Ein in China beliebter Ausdruck ist „etwas nicht gewohnt sein“ (bu xiguan 不习惯), der auch auf vergangene Reisen bezogen werden kann: Das Essen ist bu xiguan, die Leute sind bu xiguan, der Verkehr ist bu xiguan undsoweiter. China mag komisch sein, aber das heißt nicht, dass das Ausland nicht auch komisch ist.
„Chinesen sind fleißig.“
Stimmt nicht. Ein nicht seltener Anblick sind Chinesen, die bei der Arbeit schlafen.
„Chinesen sind faul.“
Stimmt auch nicht. Wenn ich mir ansehe, wie schnell Chenggong gebaut wird, kann ich wirklich nicht behaupten, Chinesen seien in irgendeiner Art und Weise faul.
Diese Liste ließe sich noch ewig fortsetzen, aber ich denke, das Muster wird klar.
Natürlich lässt sich für jeden Punkt eine Begründung finden, die nicht unbedingt falsch ist. Zum Beispiel: Wenn Chinesen einander kennen, nehmen sie kein Blatt vor den Mund, oder aber, wenn sie überhaupt keine Beziehung zu jemandem haben. Ist es aber jemand, der eine Stufe höher in der Hierarchie steht, oder jemand, den man nicht gut kennt, aber etwas, gilt es, zurückhaltend zu agieren. Oder: Wer in einem Staatsbetrieb oder in einer sonstwie sicheren Stelle arbeitet, kann es sich natürlich leisten, während der Arbeit ein Nickerchen zu halten. Aber wer (im Extremfall) Wanderarbeiter ist, sollte schon zusehen, dass er viel leistet, sonst verliert er seine Stelle. Oder: Ob Chinesen bescheiden sind oder nicht, kommt auf den ihren familiären Hintergrund und ihre Bildung an.
Es sind über eine Milliarde Menschen und die Anzahl der Faktoren scheint genauso hoch zu sein. Mit diesem kleinen Artikel verfolge ich bei Weitem nicht das Ziel, die Welt zu verändern, aber es empfiehlt sich, das eigene Chinabild laufend zu hinterfragen. Und das versuche ich eifrig, nur geschieht dadurch das, was ich eingangs erwähnte: Ich weiß immer weniger, oder zumindest fühlt es sich so an.
Zum Schluss: Dieses Gedankenspiel lässt sich offensichtlich auf jedes andere Land anwenden.
Frohes Grübeln!
Eure diese Thematik weiterhin erforschende Charlotte
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