Oder: Eine zugleich schwierige und leichte Frage
Liebe Leserschaft,
willkommen zurück auf Unterwegszeilen. Es ist Samstag, ich sitze in meinem Lesesessel und wir widmen uns heute mal einem Thema, auf das mich überhaupt erst andere gebracht haben, als ich im Rahmen meines Radio-Freiwilligendienstes in Peru war. Gar nicht so selten kam nämlich die Frage auf: Du wohnst jetzt in Peru, bist ja aber auch sehr China-affin – gibt es das irgendwelche Ähnlichkeiten, gar Gemeinsamkeiten? Sind Peru und China einander ähnlich? Unterschiede zu finden, sei ja sicherlich leicht, aber existieren Parallelen?
Anfangs sagte ich natürlich immer, nein, eigentlich nicht. Gewiss ist manches überall auf der Welt irgendwie gleich – Familie ist wichtig, Feiern ist wichtig, die meisten Menschen möchten Sicherheit und Lebensfreude. So weit, so banal. Aber spezifische Gemeinsamkeiten zwischen Peru und China? Zwei Länder, deren Hauptstädte über 16.000 km trennen, wo im einen Land die Menschen nach getaner Arbeit die Füße hochlegen, während die anderen noch frühstücken? Die durch einen unendlich langen Flug miteinander verbunden sind, den ich hoffe, nie im Leben antreten zu müssen? Die natürlich eine echt interessante und mitunter sehr traurige Migrationsgeschichte vom einen Land ins andere im 18. Jahrhundert teilen, ansonsten aber – es sei denn, ich übersehe hier etwas – historisch besehen einander eher weniger beeinflussten? Nein, keine Gemeinsamkeiten. Spannende Frage, aber nein.
Dann irgendwann kam ein Morgen, an dem ich etwas spät für das Radio dran war – und da hörte ich sie. Voller Inbrunst, aus hunderten Kehlen und mehr oder minder im Takt: die peruanische Nationalhymne, gesungen von den Kindern der Schule nebenan. Pünktlich um acht Uhr. Das ganze wiederholte sich jeden Montag.
Witzig, dachte ich noch, das ist ja wie damals im Wohnheim der Nanjing University, wo auch jeden Montag, während ich meine Lehrbücher und Hefte zusammenkramte, die Kinder der benachbarten Grundschule die chinesische Nationalhymne sangen, voller Inbrunst, aus hunderten Kehlen und mehr oder minder im Takt. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Da war sie, eine Gemeinsamkeit. Hier noch eine: Schuluniformen. Hier noch eine: Ganztagsschule.
Ganz offenbar war ich die ganze Sache viel zu verkopft angegangen. Story of my life.
Deshalb jetzt hier mal eine kleine, alles andere als abgeschlossene Liste von Gemeinsamkeiten, ganz unverkopft dargebracht, gefolgt von ein paar vielleicht doch eeeeetwas kopflastigen Überlegungen dazu, was solche (vermeintlichen?) Gemeinsamkeiten eigentlich aussagen (können). Definitiv also ein Thema, bei dem man sich schnell mal in die Nesseln setzt, aber ab und an kann man ja auch mal was richtig Riskantes, richtig Wildes machen.
Zeitliche Abläufe
Fangen wir mit etwas ganz Grundlegendem an: Zeit, Zeitgefühl, Zeitabläufe.
- Pünktlichkeit und Unpünktlichkeit: Tja. Latinos sind alle unpünktlich? Dachte ich unbewusst auch, bis ich meinen Radiochef Pedro kennen lernte, der regelmäßig zu früh irgendwo aufschlug. Was ich aber durchaus sowohl in China als auch in Peru festgestellt habe, ist ein deutlich flexibleres Verhältnis zur Zeit. Zeitangaben sind halt eher Orientierungen, ein Gefühl gewissermaßen, weniger eine strenge Vorgabe. Es kann immer mal was dazwischenkommen, weshalb man sich verspätet. Man kann aber auch deutlich vor dem Zeitplan liegen, und weil Leerlauf irgendwie echt langweilig ist, kann man verfrüht zum nächsten Punkt übergehen, wieso auch nicht. Von dieser Entspanntheit könnte ich mir echt mal eine Scheibe abschneiden, während ich noch eine Runde um den Block drehe, um bloß nicht früher als vereinbart zu klingeln.
- Langfristigkeit von Plänen: Scheint mir in beiden Ländern eher weniger wichtig zu sein. China ist ein Ort, der sich in manchen Regionen rasend schnell verändert (in anderen auch gar nicht), da ergibt es keinen Sinn, allzu langfristig zu planen, zumindest auf individueller Ebene. In Peru hingegen erscheint zumindest manches in der nahen wie fernen Zukunft eher ungewiss. Kommst du am Wochenende? Wenn der Bus fährt und die Straße frei ist, gerne. Flexibilität und ganz viel Improvisationsgeschick (!) sind in beiden Ländern wichtig.
- Mittagsschlaf: In Peru recht verbreitet, in China hier und da. So oder so blickt man in ganz verwirrte Gesichter, wenn man erklärt, dass man in Deutschland wirklich nur sehr selten nach dem Mittagessen schläft, sondern dem eventuell aufkommendes Mittagstief mit Kaffee vorbeugt. Die Frage „Warum hältst du gerne Mittagsschlaf?“ ist wohl ebenso schwer zu beantworten wie „Warum hältst du keinen?“.
- Mahlzeiten: À propos Mittagessen, Mahlzeiten sind meinem Eindruck nach sowohl in China als auch in Peru sehr wichtig. Zum einen ihre Regelmäßigkeit: Mittagessen zwischen zwölf und eins, Abendessen gegen sechs (China) oder etwas später (Peru). Zum anderen aber auch, dass Essen lecker ist. Diese eher deutsche, funktionale Einstellung, dass Essen primär dazu da ist, den Bauch zu füllen und den Körper zu ernähren, findet man natürlich auch in anderen Ländern. Meiner Erfahrung nach ist sie sowohl in Peru als auch in China aber einfach seltener. Stattdessen wird wirklich häufig darüber gesprochen, was man wann kochen wird, welche Zutaten zum Einsatz kommen, welches Familienrezept einschlägig sein könnte, welche Erinnerungen man mit einem bestimmten Gericht verknüpft und dergleichen. In Deutschland etwa nicht? Doch, klar. Aber mir scheint, etwas seltener.
Im Restaurant
Selber zu kochen (oder bekocht zu werden!) ist natürlich super, aber ab und an ein Restaurant aufzusuchen, schadet gemeinhin auch nicht.
- Trinkgeld: Weder in Peru noch in China gibt man Trinkgeld. Ich weiß gar nicht, was für mich immer die größere Umstellung ist: Nach der Rückkehr nach Deutschland wieder welches zu geben, oder in Peru oder China (oder…) keines zu geben.
- Saft: Dazu noch ein regionales Ding, nämlich die Säfte. In Peru habe ich in Jaén gewohnt, in China die meiste Zeit in Kunming. Beides sind Regionen mit warmem Klima und hoher Biodiversität und einem Reichtum an Früchten aller Art – die sich auch sehr gut für Säfte eignen. Läden mit frisch gepressten Säften, so häufig wie in Deutschland Cafés, das ist schon sehr nice.
- Bedienung: Eine Frage, die sich mir in Deutschland immer wieder stellt, ist die nach der Anrede der Kellnerin oder des Kellners. „Herr Ober!“ ist unangemessen, „Bedienung!“ unhöflich, „Äääh Entschuldigung?“ unpersönlich, trotzdem meist die Formulierung der Wahl. In China und auch in Peru entsteht dieses (zugegebenermaßen nicht gravierende) Problem gar nicht erst. Ein beherztes „Fuwuyuuaaaaan“ (服务员) bringt in Nullkommanichts jemanden an den Tisch, Peru (bzw. die spanische Sprache?!) bietet sogar mehrere Optionen: compañero, señorita, amigo, um nur mal ein paar zu nennen. Letzteres bedeutet wörtlich Freund, die weibliche Form ist amiga. Zu diesem Punkt sehe ich ein riesiges Fass vor mir, das ich eigentlich echt gerne aufmachen würde, nur würde das jeden Rahmen sprengen. Zugleich aber ist auch hier eine gewisse Parallele zu China erkennbar, wo man ebenfalls recht schnell jemanden als pengyou 朋友anredet, was für flüchtige Bekannte von Arbeit, Uni oder Sportverein (manchmal, ich glaube eher in Nordchina, auch besagte Bedienung im Lokal, Verkäufer an Straßenständen, Betreiberinnen von Kiosks usw.) genauso passt wie für jemanden, den man seit Jahren kennt und mit dem man alle Geheimnisse teilt. Will man im Chinesischen differenzieren, dass man aber wirklich dicke ist, nennt man so jemanden hao pengyou 好朋友 (guter Freund, gute Freundin) oder bringt eine der diversen chinesischen Bezeichnungen für Geschwister ein: jiejie 姐姐 (ältere Schwester), meimei 妹妹 (jüngere Schwester), gege 哥哥 (älterer Bruder) oder didi 弟弟 (jüngerer Bruder). (Achtung, umgangssprachlich werden öfters auch Cousins und Cousinen mit Geschwisterbezeichnungen betitelt, auch wenn es auch hierfür ganz spezifische Bezeichnungen gibt, die nicht nur widerspiegeln, ob die Person älter oder jünger als man selber ist, sondern auch, ob die Verwandtschaft mütterlicher- oder väterlicherseits besteht. Fun! Aber ich schweife ab.) Merke: „Freunde“ ist man in anderen Sprachen und Kulturräumen vielleicht etwas schneller als in Deutschland, wo man ein fast schon romantisches (im Sinne der Epoche) Verhältnis zum Konzept der „Freundschaft“ pflegt. Der FREUND! Ernie und Bert, Winnetou und Old Shatterhand, Harry, Ron und Hermione, drunter geht’s nicht. Ein Beispiel: ich.
(Über)Leben
- Sprachen: Sowohl in Peru als auch in China wird man mit Englisch nicht allzu weit kommen. Sicherlich wird sich mit Glück zumindest in größeren Städten jemand finden, der entweder in irgendeiner Form Englisch kann oder aber die Geduld besitzt, zu warten, bis das favorisierte Übersetzungsprogramm eine Übersetzung ausgespuckt hat. In Peru hat man wohl noch etwas bessere Karten als in China. So ganz genau weiß ich es aber auch nicht.
- Straßenverkehr: Augen auf!! Noch so eine Gemeinsamkeit ist der Straßenverkehr, der sowohl in China als auch in Peru hier und da gefährlich sein kann (oh hallo Nachtbusfahrt durchs Gebirge). On a positive note, meinem Eindruck nach sind weniger Raser unterwegs – die es natürlich auch gibt (wozu hat man ein schickes Auto, wenn man nicht den sechsten Gang ausfahren will?). Achtgeben muss man als Fußgänger nicht nur auf Autos, Busse und LKWs, sondern auch auf alles, was zwei Räder, einen Motor und null Geduld für entscheidungsschwache Fußgänger hat.
Abschließende Betrachtung
Tja. Und nun? All diese Parallelen zwischen China und Peru, und was lernen wir daraus? Zuerst einmal natürlich, dass sich ein zweiter Blick oftmals lohnen kann, und das man oft mehr gemeinsam hat, als es zuerst scheinen mag.
Aber zweitens klang in diesem Artikel ja auch der eine oder andere Vergleich mit Deutschland an, wo manches – sei es Trinkgeldgewohnheit, Straßenverkehrskultur oder Saftaffinität – dann doch etwas anders ist. Und ist nicht genau das der springende Punkt? Ist es nicht alles eine Frage der Perspektive? Wo liegt, wenn man so will, die Regel, wo die Ausnahme, sofern das hier überhaupt passt? Denn vieles, was Peru und China gemeinsam haben, hat ja nicht unbedingt eine gemeinsame Wurzel oder eine sonstwie geartete Verbindung, es ist halt einfach so. Ich sehe es wohl einfach durch die deutsche Brille. Der Grund, warum vieles anders ist als in Deutschland, liegt oftmals vielleicht einfach darin, dass Deutschland anders ist, nicht umgekehrt. (Und was heißt schon „anders“? Eigentlich doch gar nichts). Saloppes, sehr, sehr unpräzises TLDR: Vielleicht ist Deutschland auch einfach komisch.
Liebe Leserschaft, wie seht ihr das alles? Welche Eindrücke habt ihr von Peru, China oder ganz woanders? Sind es Äpfel und Birnen oder kann man verschiedene Länder wirklich vergleichen?
Eure in Erinnerungen schwelgende Charlotte