Oder: Alles keine Hexerei

Liebe Leserschaft,

wie manche von euch wissen, studiere ich Sinologie. Wenn ich mich in den verschiedensten sozialen Kontexten als Sprecherin des Chinesischen oute, ist eine der häufigeren Reaktionen: „Gibt es da nicht so viele Zeichen? Kann man die überhaupt alle lernen?“ Die Antwort: Nein, kann man nicht. Selbst Universitätsprofessoren treffen ab und an auf Zeichen, die sie noch nie gesehen haben – beispielsweise für irgendeine spezifische Vasenform, die schon vor Jahrtausenden aus der Mode kam, oder für irgendein seltenes Tier, das aller Seltenheit zum Trotz ein eigenes Zeichen erhielt. Aber man kann alle Zeichen lernen, die man für den eigenen Alltag und das eigene Fachgebiet benötigt. Gelegentlich werde ich gefragt, wie man das eigentlich anstellen kann, so als Nicht-Muttersprachler und jemand, der nicht von Kindesbeinen an Zeichen gelernt hat. Natürlich hat da jeder so seine eigene Strategie, aber ich werde hier mal meine darstellen.

Ein Hinweis noch vorweg: Diese kleine Anleitung bezieht sich auf das Schreiben chinesischer Zeichen. Chinesisch sprechen zu lernen, ist noch einmal etwas ganz anderes. Es gibt Ausländer, die wunderbar lesen und schreiben können, aber kein Gespräch auf Chinesisch schaffen, und umgekehrt.

Hier also die Unterwegszeilen-Anleitung zum Lernen chinesischer Zeichen in sieben Schritten:

 

1. Übersicht

Es geht los! Meistens lernt man chinesische Zeichen aus Lehrbüchern, wenn man sich neue Vokabeln aneignen soll und feststellt, dass man einige Zeichen aus diesen nicht beherrscht. Mal angenommen, eure Hausaufgabe ist, die Vokabeln 6-18 einer bestimmten Lektion eures Lehrbuches zu lernen…:

 

…, dann ist es möglich, dass ihr daraus einige Zeichen (nicht Wörter) nicht kennt…:

…die man sich dann am besten rausschreibt (besser übrigens nicht einkringeln, das war hier nur zur Verdeutlichung). Ich selber nehme zum Zeichenüben immer liniertes oder Blankopapier und einen Bleistift, manchen hilft aber auch eher kariertes Papier oder andere Optionen.

2. Bedeutung

Mir persönlich hilft es immer, die Bedeutung einzelner Zeichen zu kennen. Diese muss man nicht unbedingt auf das Zeichenübungsblatt schreiben, ist aber sehr hilfreich zu wissen. Gleiches gilt für die Aussprache.

 

3. Komponenten

Als letzten vorbereitenden Schritt ist es hilfreich, sich die Komponenten des Zeichens vor Augen zu führen, was natürlich umso mehr hilft, wenn man weiß, was diese bedeuten. Z.B. ist es nützlich zu wissen, dass 恋 (liàn, lieben) unten ein Herz (心) enthält oder das die linke Komponente des Zeichens 骑 (qí, reiten) ein Pferd (马) repräsentiert.

 

4. 5x Schreiben!

Und nun! Wird zur Tat geschritten und endlich geschrieben. Zum Warmwerden sollte man jedes Zeichen jeweils fünf Mal schreiben, ehe man zum nächsten übergeht. Dabei sollte man sich nie am letzten, sondern am vordersten Zeichen einer Reihe orientieren, um zu verhindern, dass sich Fehler einschleichen. Am besten spricht man dabei das Zeichen laut aus (Pro Tip: Dies idealerweise nicht im Lesesaal der Hauptbibliothek eures lokalen Elfenbeinturms tun), am besten auch irgendwie die Bedeutung im Hinterkopf behalten. Das mag nach viel klingen, aber irgendwann verschmilzt das alles miteinander im Kopf und wird ganz leicht.

 

5. 5x mischen

Jetzt weiterschreiben, aber dabei Zeichen mischen. Schreibt das erste, dann das zweite, dann das dritte, dann wieder das erste, dann das fünft, dann das vierte, dann das zweite,…. bis ihr jedes Zeichen mindestens zehn Mal geschrieben habt.

 

6. andere Zusammensetzungen

Nun ist die größte Arbeit schon erledigt. Irgendwo in eurem Hirn schwirren jetzt fünf neue Zeichen rum, aber sie schwirren noch ziemlich alleine. Zwar wisst ihr, was sie einzeln bedeuten, doch leben Zeichen erst wirklich in Zusammensetzungen wie Wörtern. Sucht euch also in eurem (elektronischen) Wörterbuch ein paar Wörter raus, die dieses Zeichen enthalten – das geht innerhalb weniger Sekunden. Schreibt diese Wörter und die Vokabel eures Lehrwerkes mehrmals. Z.B. für 恋 (liàn, lieben): 谈恋爱 (tán liàn’ài, verliebt sein), 暗恋 (ànliàn, geheime oder auch unerwiderte Liebe), 恋人 (liànrén, Geliebte/r, Freund/in).

 

7. üben

Wie mein Geigenlehrer zu sagen pflegte: „Üben üben üben!“ Und da hat er Recht. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, aber wenn man sich (halbwegs) regelmäßig hinsetzt und neue Zeichen lernt und alte wiederholt, festigt sich doch manches. Seien es Zeichen vom Vormittag, gestern, vor zwei Wochen oder sonstwann: Haltet sie in eurem Kopf irgendwie am Leben.

 

Liebe Leserschaft, ich hoffe das hilft allen unter euch, die selber Chinesisch lernen, und war außerdem interessant für diejenigen, die selber kein Chinesisch lernen und doch ein bisschen neugierig sind (übrigens: Es ist nie zu spät!).

Das alles mag jetzt nach sehr vielen Schritten klingen, ist aber ganz leicht und wunderbar wandelbar. Auch muss wohl jeder selber seinen eigenen Zeichenlernstil lernen, dies hier ist nur meine eigene Technik. Ich selber bin ja mit neumodischen Dingen weniger versiert, aber anscheinend gibt es heutzutage auch diverse tolle Programme und Apps zum Zeichenlernen, die sich sicherlich lohnen, mal zu testen. Und wer nur lesen und nicht schreiben lernen will, kann natürlich das ganze Prozedere entsprechend angleichen. Ein letzter Tipp noch: Zeichenlernen macht Spaß! Vergesst das nicht.

Wie viele Zeichen gibt es eigentlich? Gute Frage. Manche Schätzungen gehen von bis zu 50.000 aus, doch von denen müsst ihr nur einen Teil lernen, zumal davon allerallerallerhöchstens 25.000 in umfassenderen Wörterbüchern enthalten sein werden. Der eingangs erwähnte Uniprofessor beherrscht ca. 8000-10.000 Zeichen, ich selber so um die 3000, was für den Alltag absolut ausreichend ist – auch wenn einem gelegentlich Zeichen über den Weg laufen werden, die man nicht kennt.

Doch genug der Zahlen! Ran an den Speck, lernt eure Zeichen!

Liebe Leserschaft, wie lernt ihr Zeichen? Habt ihr noch Tipps auf Lager? Schreibt einen Kommentar oder schickt eine Nachricht!

Eure Zeichen liebende Charlotte