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Auf der Suche nach den Mandschuren Yunnans 3

Oder: Das mandschurische Kulturzentrum (und noch viel mehr)

Oder: Shuigouwa, Teil 3

Liebe Leserschaft,

hier nun der dritte Teil des Abenteuers in Shuigouwa, ein Dorf, in das es die ausländische Heldin dieser Geschichte auf der Suche nach den letzten Mandschuren Yunnans (und seit Jahrhunderten: auch den ersten) verschlagen hatte (hier geht es zu Teil 1 und Teil 2 der Trilogie). Das Dorf ist gefunden, ebenso ein Gebäude mit der Aufschrift „Mandschurisches Kulturzentrum“ und, in einem separaten Akt, der Schlüssel für besagtes Gebäude. Ein sehr netter Bewohner Shuigouwas erklärt sich bereit, die ausländische Heldin sowie die drei Helden aus der nächsten größeren Stadt, Wafang, das Mandschurische Kulturzentrum zu zeigen. Er wirkt etwas nervös aber eigentlich auch etwas freudig überrascht. Anscheinend kommen nicht so oft Besucher nach Shuigouwa. Eventuell aufkommende Fragen kann Huang, so heißt der junge Mann mit Familiennamen, auch beantworten.

Davon hat die ausländische Heldin natürlich jede Menge, wie wohl jeder, der davon hört, dass im südwestchinesischen Yunnan Mandschuren leben, die man sonst eher im weit entfernten Nordosten Chinas antrifft. Seit wann leben sie hier? Und warum bloß? Werden hier noch mandschurische Bräuche praktiziert? So gut es eben auf der kurzen Straße, von denen es in Shuigouwa ohnehin nur drei gibt, möglich ist, löchert die ausländische Heldin den jungen Mann namens Huang mit ihren Fragen. Er scheint sich etwas über die neugierige ausländische Heldin zu wundern und scheint auch nicht allzu bewandert in der Geschichte Shuigouwas zu sein… so ganz genau weiß er auch nicht, was seine Ururururururahnen nach Yunnan verschlagen hat. Es dämmert der ausländischen Heldin, dass das eine Frage ist, die sich niemand in Shuigouwa stellt: Es ist halt einfach so.

Aber jetzt! Es geht los! Huang kramt DEN Schlüssel hervor und schließt das Mandschurische Kulturzentrum auf. Die vier Helden treten durch die Tür und finden sich prompt vor einer Geisterwand wieder, wie sie traditionell in weiten Teilen Chinas errichtet werden, um Geister fernzuhalten, denn diese können nicht um Ecken gehen. Auf der Wand selbst prangt ein Wort in mandschurischer Schrift, die übrigens senkrecht geschrieben wird. Huang erklärt, dass dieses Wort Glück bedeutet. (Auch an den Eingängen vieler Han-Häuser findet sich dieses Zeichen, auf Chinesisch versteht sich: fu 福. Es ist vielleicht vergleichbar mit diesem Blauen Auge in der arabischen Welt, das an Hauseingängen gegen den Bösen Blick aufgehängt wird. Kleiner anthropologischer Exkurs.) Selber sprechen kann Huang Mandschurisch aber leider nicht.

Da die vier Besucher des Zentrums sowie Huang selbst keine Geister sind, passieren sie die Geisterwand problemlos und sehen nun einen großen Innenhof vor sich, an dessen Ende ein kleines Haus steht. Das Ganze ist in einem architektonischen Stil gehalten, der wohl mandschurisch ist oder sein soll – die Verfasserin dieser Zeilen weiß leider auch nicht, was das genau wäre, aber es bleibt festzuhalten, dass sich das Mandschurische Kulturzentrum Shuigouwas von den anderen Gebäuden Shuigouwas durch seine rote Farbe und sein geschwungenes Dach durchaus abhebt.

Die vier Besucher lassen sich also von Huang langsam durch den Innenhof führen. Was werden hier so für kulturelle Aktivitäten durchgeführt?, fragen sie Huang. Der kratzt sich am Kopf und berichtet, dass vor ein paar Jahren hier Kurse aller Art durchgeführt wurden, Gesang und dergleichen, aber irgendwie schon lange nicht mehr… so ganz ist nicht zu ermitteln, ob das Interesse einfach irgendwann erlosch oder ob irgendeine finanzielle Förderung auslief. Huang scheint es nicht allzu viel auszumachen, aber ein bisschen verlegen wird er doch, als er sich für die Spinnenweben in den Ecken des Innenhofes entschuldigt. Das Zentrum wirkt neu, aber irgendwie sieht man auch, dass es lange nicht genutzt wurde. Die ausländische Heldin findet, dass hier ihr Vater fehlt – er würde rumliegendes Zeug, Eimer und Holz sachgerecht entsorgen bzw. in ein Eimerregal sortieren bzw. bei Gelegenheit dem Kamin zuführen, und überhaupt mal kleinere Reparaturarbeiten durchführen. Der Vater ist aber im weit entfernten Deutschland und schwelgt in den Erinnerungen an die Party des Jahres, seinen Geburtstag einen Monat zuvor. Nun denn.

Huang erzählt ein bisschen was über die Mandschuren aus dem hohen Norden, zu denen er auch offiziell gehört, obwohl die Bewohner Shuigouwas doch recht assimiliert zu sein scheinen. Die vier Besucher versuchen an den richtigen Stellen „aaah“ zu sagen und stellen ab und an Fragen zum Mandschurischen Kulturzentrum, das seine aktivsten Tage allerdings schon gesehen zu haben scheint. Die kleine Tour ist mittlerweile im kleinen Haus am Ende des Hofes angelangt, in das Huang nun bittet. Er scheint sich zu freuen, dass sich Leute für das Mandschurische Kulturzentrum interessieren, aber er wirkt auch etwas verwirrt. Die Besucher sehen diverse Exponate der vor ein paar Jahren hier durchgeführten Kurse, sowie ein großes Porträt des Qing-Kaisers Nurhaci.

Zwischen mandschurischen Scherenschnitten und kalligraphischen Werken erzählt Huang weiter, was hier alles vor ein paar Jahren stattfand: Gesangsabende, Tänze, und hier, das sind die Kostüme! Das bisschen Staub ist schnell entfernt. Man gewinnt so langsam den Eindruck, dass hier mal ein Versuch ethnischer Re-Identität stattfand, der aber auf lange Sicht nicht so ganz Früchte trug. Vorsichtig fragt die ausländische Heldin nach all den Ankündigungen auf der Stele vor der Tür, was die Regierung dieses und letztes und nächstes Jahr und wann auch immer vorhatte. Allzu viel scheint davon nicht stattgefunden zu haben und auch nicht geplant zu sein. Die ausländische Heldin hat das Gefühl, dass die Führung sich dem Ende entgegen neigt und möchte sich für all die Mühen monetär erkenntlich zeigen, was schwer ist in einem Land, das erst gaaaaaanz langsam in großen Städten beginnt, das Prinzip „Trinkgeld“ anzuwenden. O-Ton:

Ausländische Heldin: Diese Scherenschnitte…sind die…zum Verkauf?

Huang: (verwirrt) Was meinst du?

Die Führung ist nun an ihrem Ende angelangt. Das eigentliche Ziel des Ausflugs benötigte für seine Erkundung eine schlappe Viertelstunde, doch wie so oft ist wohl der Weg das Ziel, denn dieses Abenteuer war von seinem Startpunkt in einem gammeligen Hotel in Baoshan bis zu seinem Ziel in einem usseligen Hof eines Kulturzentrums einer ethnischen Minderheit in einem Bergdorf mit drei Straßen doch nicht ganz uninteressant. Die drei Helden aus Wafang erklären sich freundlicherweise bereit, die ausländische Heldin die kurvige Straße zurück nach Wafang mitzunehmen, was die ausländische Heldin dankend annimmt, denn während des ganzen (ziemlich langen) Aufenthalts in Shuigouwa ist ihr kein durchfahrender Minivan aufgefallen. Die vier verabschieden sich von Huang, dessen Weixin-Kontakt die ausländische Heldin noch rein routinemäßig ergattert, dann steigen sie in das Auto. Ein bisschen Smalltalk entspinnt sich, verläuft aber nach einer Weile im Sande, woraufhin der Vater unauffällig das Radio aufdreht. Die ausländische Heldin belauscht über die Musik ein bisschen die Gespräche der Familie und gelangt zu der (zugegebenermaßen schwer zu überprüfenden) Hypothese, dass es sich tatsächlich um einen Vater und seine zwei Töchter handelt, und zwar mit der gleichen Frau. Das Kind ist auch wirklich klein und könnte so ziemlich neun Monate nach dem Wandel der Ein- in eine Zwei-Kind-Politik geboren sein. Wer weiß.

Die drei Helden aus Wafang setzen die ausländische Heldin auf dem Dorfplatz ab, von dem die Busse nach Baoshan fahren. Im Bus nach Baoshan ergattert die ausländische Heldin den letzten Platz, den ultimativen Todesplatz (Mutter, verzeih): ganz hinten in der Mitte, ohne Gurt. Freie Bahn bis zur Windschutzscheibe am anderen Ende. Allzu lange kann sie aber nicht darüber nachdenken, denn die Fahrt beginnt und nach kurzer Zeit fragt der Busfahrer über den brüllenden Motor hinweg, woher die ausländische Heldin stammt und wie ihr China so gefällt. Aus Deutschland. (Ich dachte, du wärst aus Amerika!) Sehr gut. (Zufriedenes Grummeln).

Nachdem der ganze Bus hierüber informiert wurde, denkt die ausländische Heldin ein bisschen über die Macht der Geschichte nach, sofern dieser Ausdruck nicht allzu pompös ist. Die Mandschuren leben schon so lange in Shuigouwa, dass keiner seiner Bewohner mehr so ganz genau sagen kann, seit wann eigentlich. Natürlich wird es irgendwo dokumentiert und nachschlagbar sein, aber den Bewohnern Shuigouwas ist das nicht wichtig. Auf dem Papier sind sie Mandschuren, aber die Lebensweise ihrer Vorfahren haben sie nicht behalten können, Vorfahren, die sich ohnehin, obgleich sie die herrschende Familie eines riesigen Reiches waren, an die Han angepasst haben, also die größte ethnische Gruppe des Volkes, das sie beherrschten. Daran kann wohl auch ein Mandschurisches Kulturzentrum nichts ändern, für das sie Begeisterung irgendwann schlichtweg abebbte. Die meisten Shuigouwaer sind Bauern, für die es wirklich nicht von Belang ist, woher sie ihr Ururururururururgroßvater einst kam. Es ist wohl einfach zu viel Zeit vergangen.

Eine andere Frage, die sich der ausländischen Heldin aufdrängt, ist, ob sie sich wiederum den Mandschuren aufgedrängt hat. Fest steht, dass sie ihnen ziemliche Umstände bereitet hat, für die sie sich nur mit einem netten Lächeln bedankt hat und vielleicht, vielleicht der Grundlage für die Geschichte „Als die Ausländerin nach Shuigouwa kam und nach dem Schlüssel für das Kulturzentrum fragte“. Vielleicht. Ob sich die Mandschuren wünschten, dass die ausländische Heldin einfach gesagt hätte, dass es auch nicht so wichtig ist, sie Shuigouwa sehr hübsch findet und nun auf dem schnellsten (ha!) Weg zurück nach Wafang fahren wird? Mag sein, so ganz wird man es wohl nie herausfinden können. Doch die Tatsachen, dass der Motorradfahrer ihr gleich gesagt hat, dass es möglich ist, das Mandschurische Kulturzentrum zu besichtigen, und ebenso, dass der ältere Herr die ausländische Heldin extra gesucht hat, deuten doch darauf hin, dass es in Ordnung war. Aber keine Ahnung. Man hat eine Chance, es direkt zu erfahren, indem man ein paar Jahre abwartet und danach Huang fragt.

Vielleicht hängt es auch mit dem chinesischen Konzept von Gastfreundlichkeit zusammen, das keinen Raum für „das passt jetzt nicht“ bietet. Wo der (Nord-)Deutsche noch überlegt, wie nun die Erfüllung des Wunsches des Besuchers in einen ansonsten schon durchgeplanten Tagesablauf integriert werden kann, ist der Chinese schon längst zur Tat geschritten. Es geht doch immer irgendwie. Über Chinesen kann man viel nörgeln, und die Verfasserin dieser Zeilen hat schon viele „China rants“ von sich gegeben, aber man muss feststellen, dass sie sehr gastfreundlich sind, und dass diese Gastfreundlichkeit nicht immer eine bewusste Entscheidung ist, sondern irgendwie irgendwo verwurzelt ist. (Kehrseite: Es ist als Ausländer manchmal schwer, den Schritt vom Gast zum irgendwie akzeptierten Mitglied einer wie auch immer gearteten chinesischen Gesellschaft zu vollziehen; das dauert wohl einfach, und wer wie die ausländische Heldin eher zwischen China und Deutschland hin- und herfliegt, ist vielleicht auch einfach zu ungeduldig in dieser Hinsicht).

Und warum sind nun Mandschuren in Yunnan? Die Antwort ist auf einer weiteren blumig formulierten Stele des Mandschurischen Kulturzentrums zu entdecken. Die ersten Mandschuren kamen 1253 in der Armee Kubilai Khans nach Yunnan, der das Dali-Königreich (aus Dali folgt noch ein Bericht) besiegte und in dem chinesischen Kaiserreich einverleibte. Die nächsten Migrationswellen fanden ab 1382 und ab 1673 statt, als mandschurische Gelehrte, Beamte und Händler ihren Weg nach Yunnan fanden. Der Urahn Huangs und Shuigouwas ist ein gewisser Huang Zuo aus Hubei – also gar nicht aus der Mandschurei, aber trotzdem echt weit weg. Die Reise Huang Zuos begann 1395 auch nicht in Hubei, sondern – ausgerechnet! – in der damaligen Hauptstadt Chinas: Nanjing, oder Yingtian, wie es zu dieser Zeit hieß, und führte ihn zunächst nach Dali, ehe er Shuigouwa gründete. (Übersetzungsverbesserungen sind natürlich willkommen).

Baoshan war eine sehr interessante Reise, doch der Bedarf nach Tapetenwechsel war noch nicht gestillt. Also: Weiter.

Eure sich in Nischengeschichte bildende Charlotte

 

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