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Auf der Suche nach den Mandschuren Yunnans 1

Oder: Minivan ins Blaue

Oder: Shuigouwa 水沟洼, Teil 1

Liebe Leserschaft,

Der Blog hatte ein bisschen Pause, doch nun geht es weiter mit ein paar Reiseschilderungen der Yunnan-Wochen im August.

Ganz kurz jedoch der aktuelle Stand der Dinge: Ich bin seit Anfang September zurück in Nanjing und habe den Semesterstart heile überstanden. Und meine Mutter war zu Besuch, was sehr schön war! Ich habe versucht, sie konstant mit leckerem China-Essen zu versorgen, und ihr das Bisschen von Nanjing zu zeigen, wo ich tatsächlich schon selber war. (Schon nach wenigen Tagen kannte sie sich besser aus. Naja.) Nun feiert die gesamte Volksrepublik ihre Gründung vor 68 Jahren mit einer Woche Ferien und verfällt vor lauter Freude einem riesigen Reisewahn, dem man in Nanjing nur entkommen kann, wenn man sich in seinem Wohnheim verbarrikadiert und nur zur Nahrungsaufnahme mal das Haus verlässt. Ob Mao so etwas Bourgeoises wie Reisen vorschwebte, als er die Volksrepublik ausrief, deren Gründung man im Moment begeht? Wohl kaum. Er würde sich im Grabe umdrehen. Wie die anderen 51 Wochen des Jahres wohl auch.

Also, Yunnan. Nach meinem Vulkanbesuch in Tengchong fuhr ich in eine Stadt namens Baoshan 保山, die selber nicht allzu viel zu bieten hat, doch mein eigentliches Ziel war auch nicht Baoshan, sondern ein Ort, der nur mit einem klitzekleinen Punkt in meinem doch recht umfangreichen Yunnan-Atlas markiert war: Shuigouwa 水沟洼。Laut Internet ein mandschurisches Dorf.

Mandschurisch? Ja, mandschurisch. Wer sich ein bisschen mit der Geschichte und den ethnischen Gruppen Chinas auskennt, wird die Mandschuren eher am anderen Ende des Landes vermuten, ganz oben im kalten (also WIRKLICH KALTEN) Nordosten des Landes, wo es im Winter gut und gerne anhaltend -20° und kälter wird und wo die Temperatur monatelang den Gefrierpunkt nicht übersteigt, ja, sich ihm noch nicht einmal nähert. Das ist das Mandschuren-Kerngebiet. Außerdem war die Qing-Dynastie, die letzte Dynastie Chinas also (清朝, 1644-1912), die Dynastie der Mandschuren, und auch das von den Japanern 1932 im Nordosten Chinas gegründete „Marionetten-Kaiserreich“, wie es in der Volksrepublik stets genannt wird, hieß Manchukuo: die Mandschurei. Es war also ein Versuch, an die letzte Dynastie anzuknüpfen; der Kaiser dieses Reiches war Pu Yi, der letzte Kaiser der Qing, dessen Geschichte übrigens in „The Last Emperor“ verfilmt wurde.

Doch genug Geschichte. Warum um alles in der Welt sind die Mandschuren hier in Yunnan? Yunnan, das mancherorts eher an Thailand erinnert als an China? Viel weiter weg ging es doch eigentlich nicht. Baoshan liegt 3000 km von der (ehemaligen) Mandschurei entfernt und doch nur 150 km von der Grenze mit Myanmar. Was könnte die Mandschuren nach Shuigouwa verschlagen haben? Migration vom Osten Chinas nach Yunnan fand eigentlich immer aus zwei Gründen statt: Entweder wurden Verbrecher ins Exil geschickt oder aber Soldaten besiegter Armeen versteckten sich in den Bergen der Provinz. Leben hier also die Nachfahren von Gangstern? Warum dann aber sind sie alle Mandschuren? Oder sind ihre Ahnen Soldaten, wie es im Übrigen im Ort Xingmeng der Fall war, wo die Mehrheit der Bewohner Mongolen sind? (http://shenghuoshenghuo.tumblr.com/post/131683194606/von-einem-weltreich-und-seinem-yunnaner) Vielleicht schon eher, nur fiel die Qing nicht, weil eine andere Dynastie sie besiegte, und selbst wenn: Das war 1911, jahrhundertelanges Verstecken war rein rechnerisch schon gar nicht möglich. Vielleicht Nachfahren von Verwaltern der Qing? Warum dann hier und nur hier? Händler? Forscher? Aussteiger?? Eine uralte Hippiekolonie?! Naja.Eins nach dem anderen.

Winzige, schwer erreichbare Dörfer mit seltenen ethnischen Gruppen – da ist die Verfasserin dieser Zeilen natürlich immer ganz vorne mit am Start. Also auf nach Shuigouwa.

Zugegeben: Während der nicht ganz unkomplizierten Anreise (Yunnan halt) erschien unserer ausländischen Heldin (für seltenere Besucher des Blogs: Das bin ich) die ganze Aktion doch etwas als Schnapsidee. Was, wenn niemand mehr in Shuigouwa lebt? Was, wenn es diesen Ort nie gab? Was, wenn hier kein einziger Mandschure wohnt? Kurzum: Was, wenn der Yunnan-Atlas der ausländischen Heldin einen Bären aufgebunden hat? Doch irgendwie ist nun der Stein ins Rollen gebracht, es geht also von Baoshan nach Wafang und von dort hoffentlich mit einer wie auch immer gearteten Verbindung nach Shuigouwa.

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Foto: in Wafang 瓦房

Nach Wafang kommt man auch noch recht leicht: Es gibt einen ziemlich regelmäßigen Bus von Baoshan dorthin. Doch wie weiter? Mit jedem verdutzen Blick eines Wafangers auf die Frage der ausländischen Heldin, wie man von hier nach Shuigouwa käme, sinkt das Vertrauen der ausländischen Heldin in diese ganze Sache. Doch es scheint Minivans zu geben, die nach Shuigouwa fahren, fragt sich nur, von wo genau. Die ausländische Heldin isst ein Mittagessen in Wafang und wappnet sich für … ja, wofür eigentlich? Für Shuigouwa halt. Und was auch immer dort nun sein mag.

An alle, die jemals nach Shuigouwa fahren wollen: Die Minivans fahren links neben der Polizeistation von Wafang ab. Dieser eine Satz reicht, um den Abfahrtspunkt zu finden, völlig aus, alle anderen Wegbeschreibungen, die man in Wafang erhält („geradeaus, dann bald rechts, dann wieder geradeaus, aber nur ein bisschen…“) helfen nur bedingt weiter. Die ausländische Heldin fragt jeden, der sich um die sich neben der Polizeistation sammelnden Minivans umtreibt, welcher nun nach Shuigouwa führe, versucht, die dieser Frage folgenden ungläubigen Blicke nicht weiter zu beachten, und findet schließlich IRGENDWIE mit der Hilfe einer sehr netten Dame ca. Mitte dreißig einen Minivan, der (anscheinend) nach oder durch Shuigouwa fährt. Der Fahrer fragt mehrmals, ob die ausländische Heldin wirklich nach Shuigouwa möchte, dann ist er (halbwegs) überzeugt und lässt sie einsteigen. Und dann gibt es kein Zurück mehr.

Die Fahrt ist lang und echt kurvig, es geht die Berge hinauf. Im Minivan sitzt die ausländische Heldin mit drei anderen Mitreisenden auf der viel zu kleinen Rückbank. Dann steigen Leute aus. Und noch mehr. Und noch mehr. Der Minivan leert sich. Auch die hilfsbereite Dame ist mit Sack (Reis) und Pack ausgestiegen. Fahren wir wirklich nach Shuigouwa? Sind wir etwa schon vorbei?? Und…woran erkennt man eigentlich, dass man in Shuigouwa ist? In ihren naiven Tagträumen hatte sich die ausländische Heldin vorgestellt, dass man Shuigouwa, dieses paradoxerweise mit jedem Kilometer, den sie sich ihm nähert, gefühlt in immer weitere Ferne rückende Ziel, schon irgendwie erkennen würde, weil es eben Shuigouwa ist. DAS Shuigouwa! Nun im Minivan hofft sie auf ein Ortsschild. Zumindest ein kleines. Lange kein Schilder mehr gesehen, das letzte Schild nach IRGENDWO muss schon ein paar Dörfer her sein.

Der Minivan hält wieder an, der Fahrer schiebt die Tür auf. „Wir sind in Shuigouwa!“ verkündet er und muss ein bisschen lachen. Die ausländische Heldin streckt ihren Kopf heraus und ist etwas verwirrt. DAS soll Shuigouwa sein? Eine winzige Straße, auf der einen Seite grüne, weite Felder, auf der anderen ein paar graue Häuser, ein Hügel, zwei neugierig am Straßenrand sitzende Alte und ein struppiger Straßenhund. Mehr ist nicht zu sehen. „Ah. Ja. Dann…ja“, bringt sie hervor, steigt aus, zahlt dem Fahrer ein paar Yuan und versucht nicht rot zu werden, als die verbleibenden Passagiere des Minivans sich im Vorbeifahren das Grinsen nicht verkneifen können.

Auf geht’s also. Die Sonne scheint, die Straße ist staubig und bar jedes Verkehrs, in der Ferne brummt irgendein Gerät. Ansonsten ist es bis auf Vogelgezwitscher absolut still. Wann fährt eigentlich hier ein Minivan zurück?

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Foto: in Shuigouwa 水沟洼

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Foto: in Shuigouwa

Es hilft alles nichts: Die ausländische Heldin ist hier und muss, ja, MUSS sich etwas umsehen. Das ist auch recht schnell erledigt: Im Ort gibt es drei (ziemlich kurze) Straßen, die in einer Art Dreieck um den Hügel angeordnet sind. Menschen sind wenige anzutreffen, aber doch immerhin ein paar. Immer schön alle anlächeln und so tun, als wäre es das normalste der Welt, dass Ausländer durch Shuigouwa schlendern. Locker bleiben. EIN MAL IM LEBEN cool sein.

Die ausländische Heldin geht also eine Runde im Dreieck (der Wortwitz sei erlaubt) und findet nicht allzu viel, will die Aktion schon für kläglich gescheitert erklären, doch halt! Über ein paar Bäumen ragt ein buntes Hausdach hervor. Das muss doch irgendwas sein. Bitte, mach dass es irgendwas ist, was Shuigouwa von all den X Dörfern hier in der Nähe unterscheidet. Also macht die ausländische Heldin einen ganz großen Bogen um den Straßenhund, der sich, wie man seinem verdutzten Blick entnehmen kann, wohl auch über den Ausländer wundert, und geht auf einem Pfad an einem Bach entlang zu dem bunten Haus und – Treffer! Ein mandschurisches Kulturzentrum, wie ein Schild ausweist. Cool! Shuigouwa ist also doch in irgendeiner Form mandschurisch geprägt. Hoffen wir mal, dass sich hier herausfinden lässt, warum Mandschuren in Yunnan leben.

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Foto: das mandschurische Kulturzentrum

Hier geht’s zu Teil 2 des Abenteuers.

Eure niemals ohne Yunnan-Atlas reisende Charlotte

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