Oder: Ein gruseliges Mahl
Auslandsstudentin: (Hat sich einen Hexenhut aufgesetzt und eine Einladung zu einer Halloween-Party, das die Besitzerin eines Restaurants in ihrer Lokalität ausrichtet, angenommen. Sitzt nun mit einem Nachbarn um die 30 zusammen, der zudem auch zum Sicherheitspersonal ihres Wohnblocks gehört). Und…hast du Hunger?
Nachbar: Hm naja, ein wenig. Und du?
Auslandsstudentin: Irgendwie schon. Ich glaube, ich werfe mal einen Blick aufs Buffet.
Nachbar: (energisch) Nein! Ich bringe dir was! (Sieht die Auslandsstudentin mit einem Blick an, der eine Mischung aus chinesischer Gastfreundschaft und Höflichkeit und berufsbedingter Autorität an, die keine Widerrede duldet).
Auslandsstudentin: (leicht eingeschüchtert – diese überhöflichen Chinesen!) Naja, ich dachte ja nur…. Mja.
Nachbar: (verschwindet schleunigst zum Buffet)
Auslandsstudentin: (wartet und hofft. Sie hofft, das ihr wohlmeinender Nachbar ihr nicht eines der zwei Dinge bringt, die sie zuvor auf dem Buffet erspäht hat und die sie beim besten Willen nicht hinunterbringt: Obstsalat à la Chinoise – sprich: Banane mit Majonäse – und kalt servierte Leber, ein Organ, von dessen Konsum ihr bedauerlicherweise und trotz gelegentlichem Üben unwohl im Magen wird. Wird nervös.)
Nachbar: (erscheint mit einem voll beladenen Teller, der zu je einer Hälfte mit Leber und Majobanane versehen ist. Enthusiastisch). Hier! Für dich!
Auslandsstudentin: Oh! Vielen Dank! Da freue ich mich aber. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.
Nachbar: (verschwindet und kehrt mit einem mit den gleichen Gerichten versehenen Teller für sich selber sowie zwei kleinen Schalen Chilipulver zurück.) Nichts zu danken! Die Leber muss man in das Chilipulver dippen. (beginnt zu schaufeln)
Auslandsstudentin: (es geht jetzt wohl nicht anders. Sie konsumiert langsam den Inhalt ihres Tellers und fragt sich, warum ihr freundlicher, lieber Nachbar nicht etwas Anderes gebracht hat, aber sie will nicht undankbar sein) Schmeckt super, oder? Echt toll.
Nachbar: (hat bei seiner Mahlzeit schon deutlich mehr Fortschritt als die Auslandsstudentin gemacht) Ja, wirklich lecker. Was esst ihr eigentlich so in Deutschland?
Auslandsstudentin: (ist sehr dankbar für diesen Smalltalk, denn er lenkt vom Essen ab, und erzählt von Kartoffeln, Fleisch, Brot und Schokolade. Mit der Zeit stellt sie außerdem fest, dass das Chili den Lebergeschmack überdeckt, wenn man schnell genug schluckt. Schämt sich irgendwie, weil sie sich plötzlich wie die mäkeligste Esserin Kunmings fühlt und es wahrscheinlich auch ist).
Nachbar: (zuckt) Sorry, mein Handy klingelt. (holt es aus der Hosentasche hervor) Hallo?… Ja…ja….Oh! Ja, ich komme sofort! … Nein, kein Problem! (alarmiert) Ich bin gleich da! Ja! (hektisch) Bis gleich! (legt wichtig auf).
Auslandsstudentin: Ist was passiert? (ebenfalls leicht beunruhigt, der junge Mann scheint einen Einsatz zu haben. Brand? Diebstahl?)
Nachbar: (schnell) Die Tochter meiner Nachbarin und Klavierlehrerin ist krank geworden! Ich muss in die Apotheke und ihr ein Medikament holen.
Auslandsstudentin: (etwas enttäuscht von dieser unspektakulären Antwort) Oh! Auha, ja, dann aber fix!
Nachbar: (zieht sich die Jacke an und rennt davon)
Auslandsstudentin: (sitzt nun alleine vor dem nicht schrumpfenden Berg auf ihrem Teller. Zeit für eine Strategie. Das ganze Essen in einem der umstehenden Kürbisse zu verstecken erscheint ihr zu riskant, unhöflich und verschwenderisch. Es hilft nichts: Es muss gegessen werden. Also gut, mehr Chili, zur Übertünchung. Sie erhebt sich, marschiert zum Buffet und entdeckt, gleich hinter den Hühnerfüßen und dem Majo-Obstsalat, eine große Schale Chilipulver. Großzügig füllt sie einen großen Löffel mit dem Pulver, lässt es in ihre Schale rieseln und holt sich einen Nachschlag – und da passiert es: In aller Tollpatschigkeit fällt ihr einiges an Chilipulver in den Majo-Obstsalat. Nicht so viel, dass es alles ungenießbar wäre, aber doch so viel, um einen Unterschied zu machen. Die gesamte rechte Hälfte des verbliebenen Bananen-Majo-Klumpens ist mit knallrotem Chilipulver bedeckt. Die Auslandsstudentin widersteht dem Impuls, in allen ihr bekannten Sprachen zu fluchen, überlegt kurz und entscheidet sich dann für die einzig akzeptable Lösung: Sie schnappt sich einen Becher und füllt die Hälfte des Bananen-Majo-Chili-Salats hinein. Wie soll sie das bloß essen? Leicht überfordert kehrt sie zu ihrem Platz zurück und füllt mit wachsender Verzweiflung den Bananen-Majo-Chili-Salat zum Bananen-Majo-Salat auf ihrem Teller. Seufzt)
Vater eines der Kinder: (dreht sich vom Nachbartisch um) Nihao, woher kommst du?
Auslandsstudentin: (blickt vom Schlachtfeld auf ihrem Teller auf) Aus Deutschland. (versucht, entspannt und freundlich zu klingen).
Vater: Ah! Schön! (wirft einen Blick auf den Bananenberg auf dem Teller der Auslandsstudentin. In Deutschland isst man Banane also mit Majo und Chili. Spannend.) Ich habe vier Jahre in Frankreich gelebt.
Auslandsstudentin: (versucht, sich nichts anmerken zu lassen). Ah! Schön. Frankreich ist sehr hübsch. Sind Sie Französischlehrer?
Vater: Ja, an der Yunnan University. Ich war auch einmal in Deutschland. (Es folgt ein Exkurs über Berchtesgaden, das – einzige – Ziel der Reise des Vaters.)
Auslandsstudentin: (isst tapfer Banane mit Chili, Majo und Leber. Da muss man durch. Nickt und lacht an den hoffentlich richtigen Stellen.)
Nachbar: (erscheint klitschnass – es ist Regenzeit) Alles erledigt! Die Tochter brauchte Medizin und die Mutter konnte nicht aus dem Haus, weil ihr Mann nicht da ist und sie die Tochter nicht alleine lassen konnte. (blickt auf den Teller der Auslandsstudentin. Stutzt. Hat er ihr etwa zu wenig Banane gebracht? Und das mit dem Chili scheint sie irgendwie falsch verstanden zu haben, der war doch für die Leber. Dem Umfang des Nachschlags nach zu urteilen, den sie sich da gegönnt hat, hat sie noch Hunger.) Ich hol’ dir noch was! (eilt zum Buffet)
Auslandsstudentin: Nein! Äh….nein, das ist nicht nötig, ich habe hier noch…..Obst…. (oh nein)
Nachbar: (läuft gen Buffet, die Ausländerin ist wirklich viel zu höflich und bescheiden.)
Auslandsstudentin: (hofft, dass jetzt etwas Anderes kommt. Isst das Gemisch auf ihrem Teller und versucht dabei, sich mit Grübeleien über Gott, die Welt und Berchtesgaden vom Geschmack abzulenken. Erfolg: mäßig.)
Nachbar: (begeistert) Hier! Für dich! (stellt eine kleine Schale Hühnerfüße mit Möhre und Koriander vor die Auslandsstudentin. Das wird ihr sicher schmecken.)
Auslandsstudentin: Oh! Vielen Dank! (versucht zu lächeln. Isst ein Stück Möhre). Sehr lecker!
Nachbar: Nichts zu danken. (nimmt seine Nahrungsaufnahme wieder auf, ebenso wie die Studentin).
Gastgeberin: Alle herhören! Wir spielen jetzt mit den Kindern ein Spiel. (verweist auf eine Gruppe schüchtern dreinblickender vier- bis siebenjähriger Hexen und Vampire)
Auslandsstudentin: (begeistert) Auja, ein Spiel! Komm, wir machen mit. (Schnappt sich den Nachbarn und flieht zu dem Tisch, an dem in irgendeiner Form nun ein Spiel stattfinden soll. Schwein gehabt.)