oder: Reisen macht Spaß.
Prolog: Unsere ausländische Touristin, in dem Fall ich, hat sich schweren Herzens zu einer etwas überstürzten Abreise aus Danau Toba nach Bukittinggi entschieden (entscheiden müssen), da sie an einem bestimmten Tag in Yogyakarta sein muss. Schade, findet sie, denn hier gäbe es noch eine Menge zu sehen, letztlich war sie nur zwei halbe Tage dort. Aber es hilft alles nichts! Es waren Feiertage und alle Busse ausgebucht, die Touristin stand vor der Wahl, entweder am selben Abend mit dem Nachtbus weiterzufahren oder aber erst in vier Tagen, was zeitlich nicht mehr zu schaffen gewesen wäre.
Die Touristin hat also einen Platz in einem eigentlich ausgebuchten Nachtbus ergattern können. (Naja, es ist Indonesien und man weiß nie so genau, aber dass Bustickets schwer zu bekommen sind, hat die Touristin schon von verschiedenen Seiten gehört und sie will es auch nicht riskieren. Vielleicht versucht man sie ja mal nicht über den Tisch zu ziehen). Beim Ticketkauf wird ihr ein Sitzplan des Busses gezeigt, der einzige zur Verfügung stehende Platz (angeblich hat jemand sein Ticket zurückgegeben) ist in der allerletzten Reihe hinter der Hintertür, was unendliche Beinfreiheit bedeutet und außerdem in Klonähe ist, ein im schaukelnden Bus nicht unerheblicher Faktor, wenn man nicht alle paar Reihen den Mitreisenden auf die Füße treten will. Traumhaft. Warum um alles in der Welt gibt jemand so ein wunderbares Ticket zurück? “Miiiiiss, I’m sorry,” fügt die Dame im Reisebüro hinzu, “your seat is not reclinable.” “Um…yeah, that’s fine I guess”, zuckt die Touristin mit den Schultern, denn sie lehnt sich in Nachtbussen ohnehin nie zurück (warum, weiß sie auch nicht). “Is okeh for you, Miss?”, hakt die Dame in feinstem indonesischen Englisch noch mal nach. “Ya, is okeh for me. Terima kasih.” Danke.
Der Bus hat zwei Stunden Verspätung, die die Touristin lesend im etwas verpekten, dusteren Busbahnhof verbringt. Schon jetzt verlässt sie jede Lust auf die Fahrt, aber was solls. Für solche Situationen hat sie stets einen Satz parat: Reisen macht Spaß. Seufzend gedacht, lässt sich hier hemmungslos Sarkasmus loswerden, gleichzeitig ist es der Touristin aber auch eine Erinnerung daran, dass sie ja zum Vergnügen hier ist und an sich sehr, sehr gerne unterwegs ist. Wichtigen Zettel verusselt? Strömender Regen? Gepäck (drei Taschen) fühlt sich minütlich schwerer an? Alle Unterkünfte ausgebucht? Oder, wie meistens, wenn es dann eintritt, alles zusammen…? Durch zusammengebissene Zähne ein „Reisen. Macht. SPASS.“ und es geht irgendwie.
Chronologie einer Nachtfahrt.
19:00 Uhr
Der Bus kommt an! Die Touristin ist ganz aus dem Häuschen. Sie bugsiert sich und ihre Taschen irgendwie hinein, findet ihren Platz (keine lange Suche erforderlich – es ist der einzige noch freie Platz) und grüßt die etwas korpulente Dame mit Kind (ca. 3 Jahre), die sowohl auf dem Platz zur Linken der Touristin als auch teilweise auf dem Platz der Touristin selbst sitzt. Trotzdem – immer schön mit den Sitznachbarn anfreunden, man weiß ja nie. Zur rechten Seite ist nur die Toilettenbude, von daher muss die Touristin mangels Alternativen die barocke Dame zu ihrer Linken zur Freundin erklären. Trotzdem denkt sie sich „im Geheimen“ – Dicke mit Kleinkind. Na prima. Reisen macht Spaß.
19:10 Uhr
Der Bus fährt los, die Touristin erkennt, weshalb ihr Sitzplatz not reclinable ist: Hinter der Touristin türmt sich das Gepäck der Mitreisenden, obendrauf liegt, auf einem kleinen Deckchen, der zweite Busfahrer, selig schlummernd. Okay. Lobend muss die Touristin aber auch anmerken: Es gibt zwei Fahrer, die sich abwechseln, das hat sie weder in China noch in Vietnam noch in Laos noch in Thailand jemals in einem Nachtbus gesehen.[1] Lobend muss sie auch anmerken: Das Gepäck ist im Bus selbst und nicht auf dem Dach befestigt. Alles paletti.
19:15 Uhr
Der Bus schaukelt wiegenartig, die Frau neben der Touristin, das Kind und schließlich auch die Touristin selbst nicken ein.
19:30 Uhr
Die Touristin wird aus dem Schlaf gerissen, als der Bus bremst und sie langsam aus dem Sitz rutscht. (Die Idee „Sitzgurt“ hat sich noch nicht durchsetzen können.) Die Touristin setzt sich wieder aufrecht hin. Die Fahrgäste in den reclinable Sitzen liegen fester und haben nichts gemerkt. Die Touristin schläft wieder ein, es schaukelt so schön.
20:00 Uhr
Die Touristin wird erneut aus dem Schlaf gerissen, als ein Fahrgast zur Toilette wankt und sie bittet, ihren Fuß zur Seite zu bewegen, da er sonst die Tür nicht öffnen kann. „Sure, no pro—“ Äh, da ist der Fuß der barocken Dame. Na gut, hochgehoben.
20:10 Uhr
Die Klotür öffnet sich wieder, die Touristin kann rechtzeitig die Füße heben. Der Fahrgast torkelt wieder heraus, es folgt eine Duftwolke aus der Toilette, die naja, nach Busklo riecht. Na gut. Die Touristin schläft benebelt wieder ein.
20:40 Uhr
Die barocke Dame setzt sich um. Die Touristin somit auch.
20:45 Uhr
Die barocke Dame setzt sich erneut um. Die Touristin somit auch.
20:50 Uhr
Die barocke Dame setzt sich wieder um. Die Touristin versucht, irgendwie ihre Sitzposition so anzupassen, dass sie nicht immer aufwacht, wenn die barocke Dame sich umsetzt. Geht aber nicht. Die Touristin erhält einen kleinen Eindruck davon, wie siamesische Zwillinge sich fühlen. Reisen macht Spaß.
21:20 Uhr
Die Touristin wacht auf, es wird furchtbar kalt in dem Bus. Klimaanlage. Es zieht! Und über den not reclinable Sitzen lässt sich die Intensität des Gebläses über dem Kopf nicht einstellen. Notdürftig deckt sich die Touristin irgendwie mit ihrer dünnen Jacke und einem Schal zu.
21:50 Uhr
Der Schal fällt herunter, die Touristin spürt schlagartig die Kälte und erwacht. Sie setzt sich um und wickelt den Schal irgendwie anders.
21:51 Uhr
Die barocke Dame ist aufgewacht und ist etwas genervt, dass sich die Ausländerin neben ihr ständig umsetzt.
22:00 Uhr
Licht an! Pause. Die Männer stürzen hinaus, um zu rauchen. Was die Touristin sehr interessant findet, schließlich rauchen sie auch im Bus. Die Frauen gehen auf die Toilette, die Touristin schließt sich an. Auf das Busklo zieht es sie weniger.
22:30 Uhr
Die Fahrt geht weiter.
22:40 Uhr
Die Touristin schläft wieder ein.
23:10 Uhr
Die Tür des Busklos ist irgendwie nicht ganz heile und fliegt in einer Kurve auf. Die Touristin, ganz begeistert, dass sie ihre Füße neu hat verstauen können, bekommt die Tür auf den Knien zu spüren. Ein dritter Angestellter der Busgesellschaft (dessen Aufgabenbereich sich der Touristin nie so ganz erschloss) steht auf und schließt die Tür richtig.
23:40 Uhr
Das Kind auf dem Schoß der barocken Dame setzt sich um und streckt seine Beine auf den Schoß der Touristin. Meinetwegen.
23:50 Uhr
Der barocken Dame wurde es, wohl wegen der neuen Position des Kindes, im Sitz unbequem, weshalb sie sich umsetzt. Die Touristin tut es ihr gleich, nicht ohne vorsichtig die Beine des Kindes anzuheben. Alles, damit es weiterschläft!! Aber oh nein, irgendwie sind die Füße der Touristin jetzt wieder vor der Klotür. Kann man nix machen.
0:20 Uhr
Es muss ein Fahrgast aufs Klo. Die Touristin hebt die Füße. Das Kind schläft glücklicherweise ungestört weiter.
0:30 Uhr
Die Touristin hebt wieder die Füße, um den Fahrgast aus der Toilette zu lassen.
1:00 Uhr
Das Kind rührt sich. Die barocke Dame setzt sich um, irgendwie breitet sie sich langsam, aber sicher auf dem Sitz der Touristin aus, die ihrerseits an die Wand der Klobude gedrückt wird. Reisen macht – Kurve! Die Klotür fliegt auf, die Touristin merkt es an den Knien. Es folgt eine Duftwolke. Reisen macht Spaß.
1:30 Uhr
Trotz aller Umwicklungen durch Schal und Jacke ist der Touristin entsetzlich kalt.
2:00 Uhr
Trotz aller Umwicklungen durch Schal, Jacke und barocke Dame ist der Touristin immer noch entsetzlich kalt. Reisen macht Spaß. Es hilft wohl nur Schlaf, um diese Lage möglichst schnell hinter sich zu bringen. Der zweite Busfahrer auf dem Gepäckberg hinter der Touristin schnarcht leise.
2:30 Uhr
Licht an! Zigaretten- und Toilettenpause. Die Touristin stürzt hinaus, um aufzutauen.
3:00 Uhr
Die Fahrt geht weiter. Schnatter.
3:30 Uhr
Die barocke Dame beschließt, dass jetzt, um halb vier Uhr morgens, der ideale Zeitpunkt gekommen ist, ein Gespräch mit der Touristin anzufangen.
„Sendiri?“ Alleine?
„Ya, sendiri.“
Der Blick der barocken Dame ist voller Mitleid. Diese Ausländerin hat keine Freunde, keinen Ehemann und Waisin ist sie offenbar auch noch, denn hätte sie Eltern, ja, überhaupt Familienangehörige, hätten die ihr niemals erlaubt, in ihrem zarten Alter von 22 Jahren auch nur eine Fuß aus ihrem Heimatdorf zu setzen. Schlimmes Schicksal. Also ein Herz hat sie ja, denkt die Touristin.
„Dari mana?“ Woher?
„Jerman.“ Deutschland.
Die barocke Dame erliegt einem Redeschwall, in dem die Touristin lediglich Bukittinggi (den Zielort) und „Familie“ versteht. Den Rest reimt sie sich zusammen, kann sich aber keine Frage einfallen lassen, um das Gespräch fortzusetzen. Sie lächelt die barocke Dame an. Das Gespräch erstirbt. Die Gesprächsteilnehmer schlafen wieder ein.
4:00 Uhr
Kalt.
4:10 Uhr
Immer noch kalt.
4:40 Uhr
Es muss jemand auf die Toilette. Füße hoch, das übliche Prozedere.
4:50 Uhr
Der Fahrgast kommt aus der Toilette zurück. Füße hoch. Das Kind der barocken Dame rührt sich, wahrscheinlich von der Wolke geweckt. Bitte, bitte, schlaf weiter… Das Kind streckt sich wieder auf der Touristin aus. Na gut. Die Touristin arrangiert ihr dünnes Jäckchen gegen die Eiseskälte neu und schläft ein. Reisen macht Spaß, denkt sie noch, bevor sie im Land der Träume ist.
5:20 Uhr
Der Bus bremst, die Touristin rutscht langsam, aber sicher aus ihrem Sitz. Not reclinable.
5:30 Uhr
Die Touristin und die barocke Frau versuchen, irgendwie sich und noch das Kind neu in die zwei Sitze zu puzzeln. Mitten in der Puzzelei muss jemand auf die Toilette. Schlechter Zeitpunkt. Reisen macht Spaß.
5:40 Uhr
Die Touristin und die barocke Frau haben sich erfolgreich gepuzzelt, da fliegt die Klotür auf, ein Fahrgast, wankt hinaus, die Touristin muss die Füße heben und zerstört die neu gewonnene Ordnung auf den zwei Sitzen. Auweia.
6:10 Uhr
Die Touristin wacht auf, es graut der Morgen. Und es graut der Touristin, als sie sieht, dass die Straße, auf der der Bus fährt, direkt an einem Abgrund verläuft und der Fahrer in etwa so alt ist wie ihr Cousin Oskar, dessen Konfirmation sie kurz vor der Abreise nach China besuchte. Da hilft nur Augen wieder zu.
6:40 Uhr
Der Bus hält an. Irgendwas stimmt nicht. Der Fahrer springt heraus, es folgt der dritte Angestellte der Busgesellschaft (dessen Aufgabenbereich sich der Touristin nie so ganz erschloss). Bald ist Hämmern zu Hören. Die Touristin schließt die Augen und schläft wieder etwas ein.
7:00 Uhr
Die Touristin wird unsanft geweckt, weil der zweite Busfahrer sein Nachtlager auf dem Gepäckberg verlassen möchte, um dem Hämmern in den Untiefen des Busses auf den Grund zu gehen, und dazu über ihren Sitz und den der barocken Dame klettern muss.
7:20 Uhr
Geschafft! Der Bus ist repariert und wird es wohl bis Bukittinggi schaffen. Die Fahrt geht weiter.
7:40 Uhr
Och nö. Es muss jemand auf die Toilette. Füße gehoben, gewartet, bis der Fahrgast fertig ist, Füße hochgehoben, umgesetzt, Blick der barocken Dame ertragen, Füße des Kindes auf den eigenen Beinen arrangiert. Man gewöhnt sich an Vieles. Und Reisen macht Spaß.
8:10 Uhr
Bald haben die Touristin, die barocke Dame, das Kind der barocken Dame, der schweigsame, unbarocke Ehemann der barocken Dame und die anderen 30 Fahrgäste Bukittinggi erreicht. Da fällt der barocken Dame auf: Es fehlt ein Schuh des Kindes. Sicher sitzt diese gierige Touristin darauf. „Sepatu, sepatu!“, „Der Schuh, der Schuh!“, weckt sie die Touristin und gibt ihr mit ausladender Gestik zu verstehen, dass sie bitte aufstehen soll, denn sie sitzt, wie es scheint, auf dem Schuh des Kindes. Die Touristin steht auf. Auf ihrem Sitzplatz ist gähnende Leere, sowohl auf der Hälfte, auf der sie saß, als auch auf der Hälfte, die von der barocken Dame eingenommen wurde.
8:11 Uhr
Es muss jemand auf die Toilette. Ausgerechnet jetzt. Reisen macht Spaß. Die Touristin friemelt sich irgendwie zwischen den toilettenbedürftigen Fahrgast, das Kind und die barocke Dame, die weiterhin ihr „sepatu, sepatu,…“ von sich gibt.
8:20 Uhr
Der toilettenbedürftige Fahrgast verlässt wankend und von der üblichen Wolke gefolgt die Toilettenbude. Die Touristin setzt sich wieder hin. Der Schuh des Kindes interessiert sie gerade weniger. Sie nickt ein.
8:30 Uhr
„Sepatu, sepatu“, wird die Touristin wieder geweckt, aber dieses Mal gilt es dem zweiten Busfahrer, der hinter ihr schläft. Wie um alles in der Welt der sepatu es dorthin geschafft haben soll, ist der Touristin ein Rätsel, aber die Gesetze der Physik sind ihr ohnehin ein Buch mit sieben Siegeln. Draußen sieht man erste Zeichen der Besiedlung.
9:00 Uhr
Angekommen! Die Touristin verabschiedet sich von der barocken Dame, die den Schuh weiterhin standhaft sucht, sammelt ihr Hab und Gut in den drei Taschen ein, drapiert selbige irgendwie auf und um sich und quetscht sich so durch die Hintertür des Busses. Geschafft! Reisen macht Spaß.
Was ich gelernt habe: Jede Busfahrt hat irgendwann ein Ende. Reisen macht wirklich Spaß, Indonesien ist ein schönes, interessantes Land.
[1] an dieser Stelle eine Anekdote einer Kommilitonin, die eine Reise nach Laos unternahm. Auf dem Rückweg nach Kunming entschied sie sich auch für einen Nachtbus, schlief die Nacht zuvor wenig und war entsprechend vor der Fahrt hundemüde. Die Fahrt begann, gegen 22 Uhr setzte eine furchtbar laute Musik ein. Warum um alles in der Welt das jetzt sein müsse, fragte meine Kommilitonin, die etwas Laotisch spricht, einen Mitreisenden. „Naja,“ antwortete dieser, „das ist damit der Fahrer nicht einschläft.“ Keine weiteren Fragen.
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