Oder: Alles unter Kontrolle
Meine Eltern sind in Kunming! Letzte Woche Donnerstag sind sie gelandet und sind sehr angetan von Essen, Wetter und Flora Kunmings. Es ist sehr schön, die beiden nach acht Monaten wiederzusehen, und es ist echt beruhigend, dass im Leben manche Dinge konstant bleiben. So auch heute.
Es stand ein Ausflug zu den Fossilien in Chengjiang 澄江 an, Weltnaturerbe und geowissenschaftlich wichtig. Hauptakteur ist ein Tierchen, das den Laien an eine überdimensionale Kellerassel mit etwas glubschigen Augen erinnert. Wer vom Fach ist, weiß jedoch um die immense Bedeutung dieses Tierchens. Also gut, wir machten uns auf nach Chengjiang!
Eine halbe Stunde Taxifahrt zum Süd-Busbahnhof und eine weitere Stunde Busfahrt nach Chengjiang selbst (oder wie die Eltern sagen: „Tschäng-Tschang“) stehen wir etwas orientierungslos auf der Hauptstraße der Stadt – Dorf ist wohl der passendere Ausdruck. Wie im Internet empfohlen (in Reiseführer haben es die Fossilien irgendwie noch nicht geschafft), heuern wir nach langer Preisverhandlung so eine Art überdachtes, motorisiertes Dreirad an, um darin die etwa 45minütige Fahrt zur Fundstätte der Fossilien zurückzulegen. Chronologie eines Abenteuers.
11:15 Uhr
Vater, Mutter und Tocher besteigen das Gefährt. Knie einziehen. Es schaukelt, als alle drei drin sind. Alles gut. Vater und Tochter sitzen in Fahrtrichtung, Mutter gegen Fahrtrichtung.
11:16 Uhr
Es geht los.
11:17 Uhr
Vater, Mutter, Tochter und v.a. Fahrerin kämpfen sich klappernd und brummend auf einer staubigen Dorfstraße voran.
11:18 Uhr
Der Vater betont: Alles gut. Und wie sehr er sich auf die Fossilien freut.
11:19 Uhr
Die Mutter betont: Alles gut. Ja, alles gut.
11:20 Uhr
Die Tochter merkt jetzt schon den Tee vom Frühstück.
11:21 Uhr
Die Fahrerin fährt tanken. Die Tochter geht aufs Klo.
11:25 Uhr
Die Tochter kehrt vom Tankstellenklo zurück.
11:26 Uhr
Die Fahrt geht weiter.
11:27 Uhr
Der Vater stellt noch einmal die Bedeutung der Fossilien von Chengjiang heraus. Die Tochter findet es ganz prima.
11:28 Uhr
Die vier verlassen das Dorf und biegen auf eine Landstraße ein.
11:29 Uhr
Der Vater fragt, wie lange wir eigentlich fahren. Die Tochter meint, mindestens eine Dreiviertelstunde. Die Mutter findet das recht lang, aber es lohnt sich ja. Auch der Vater findet das durchaus lang, aber es wird sich lohnen.
11:30 Uhr
Die Landstraße entwickelt eine gewisse Steigung. Die Mutter beäugt skeptisch das klappernde Gefährt, in dem sie sitzt.
11:31 Uhr
Die vier werden von einer Kolonne Autos überholt.
11:32 Uhr
Die vier werden von einem Laster überholt.
11:33 Uhr
Die Fahrerin schaltet in den ersten Gang. Wir fahren gefühlt 5 km/h.
11:34 Uhr
Die Fahrerin versucht es noch einmal im zweiten Gang. Kein Erfolg.
11:35 Uhr
Die vier werden von einem Betonmischer überholt. Alles gut.
11:36 Uhr
Die vier werden von einer ganzen Reihe Autos überholt. Alles gut.
11:37 Uhr
Die vier überholen! Es handelt sich um einen antiquarischen Trecker. Glücklicherweise passen die vier zwischen den Trecker und den sie selber überholenden Laster (die Straße hat zwei Fahrstreifen je Richtung).
11:38 Uhr
Der Vater freut sich auf die Fossilien. Die Mutter blickt aus dem Fenster auf den Verkehr. Alles gut.
11:39 Uhr
Die Fahrerin versucht es im zweiten Gang. Scheint zu gehen. Alles gut.
11:40 Uhr
Die Fahrerin schaltet wieder runter. Zu steil.
11:41 Uhr
Die vier werden von einem klapperigen, uralten Mofa überholt.
11:42 Uhr
Der Vater freut sich auf die Fossilien.
11:43 Uhr
Die vier überholen! Es handelt sich um ein uraltes… Gefährt irgendeiner Art, völlig überladen mit irgendwelchen Drahtseilen. Es dauert, jenes Gefährt ist nämlich nur unwesentlich langsamer als das Dreirad unserer vier Helden.
11:44 Uhr
Die Mutter macht große Augen und blickt aus dem Heckfenster. Die Tochter dreht sich um und blickt in die Scheinwerfer eines richtig, richtig, richtig großen LKWs, der gerade seiner Spur beraubt wurde und das klapperige Dreirad, sofern er es sieht, gerne seinerseits überholen würde. Die Fahrerin schafft es irgendwie rechtzeitig noch zurück auf die rechte Spur knapp vor das Gefährt mit den Drahtseilen. Der LKW rauscht um Haaresbreite vorbei. Meine Güte. Die Mutter atmet ein paar Mal ganz, ganz tief durch. Die Tochter ebenso.
11:45 Uhr
Mutter und Tochter beruhigen sich langsam wieder.
11:46 Uhr
Der Vater fragt, ob was gewesen sei. Keine Reaktion.
11:47 Uhr
Die Mutter blickt misstrauisch im Gefährt umher.
11:48 Uhr
Der Vater freut sich auf die Fossilien und findet überhaupt die Landschaft schön. Die Tochter stimmt zu.
11:49 Uhr
Die vier werden von einem großen Bus überholt.
11:50 Uhr
Die Mutter hält sich prophylaktisch am Fensterrahmen fest. Alles gut.
11:51 Uhr
Die vier verlassen die Landstraße und biegen arg schaukelnd auf eine neue Straße ein. Diese Straße ist ruhiger, gleichzeitig aber auch schmaler und es gibt Gegenverkehr. Und sie ist ebenso steil wie die vorherige.
11:52 Uhr
Neue Straße, neues Glück. Die Fahrerin schaltet in den zweiten Gang. Alles gut.
11:53 Uhr
Die Fahrerin schaltet in den ersten Gang. Zu steil.
11:54 Uhr
Der Vater stellt fest, dass wir im ersten Gang fahren.
11:55 Uhr
Die vier erreichen eine Weggabelung. Die Fahrerin hält an, steigt aus, läuft über die Straße und hält einen Motorradfahrer an. Die Mutter wirft die Frage auf, ob die Gute gerade nach dem Weg fragt. Die Tochter hat einen ähnlichen Verdacht. Der Vater findet es auch etwas merkwürdig.
11:56 Uhr
Die Fahrerin kehrt zurück, blickt in die fragenden Gesichter der drei in ihrem Dreirad kauernden Ausländer und erklärt der Tochter, gerade nach dem Weg gefragt zu haben. Sie führe die Strecke zum ersten Mal. Die Tochter ist sich nicht sicher, ob sie das übersetzen soll, tut es, als sie wiederum in die fragenden Gesichter ihrer Eltern blickt, doch. Auha.
11:57 Uhr
Die Fahrt geht weiter. Alles gut.
11:58 Uhr
Der Vater ist erstaunt, dass nicht häufiger Touristen zu den Fossilien fahren. Komisch.
11:59 Uhr
Die vier werden von einem mit Schutt beladenen Laster überholt.
12:00 Uhr
Der Vater wirft, dem Laster nachblickend, die Frage auf, ob hier Phosphat abgebaut wird und möchte von der Tochter wissen, wie man das eigentlich auf Chinesisch sagt.
12:01 Uhr
Die Tochter hat die Übersetzung in ihrem störrischen neuen Smartphone-Wörterbuch gefunden und liest sie dem Vater vor.
12:02 Uhr
Der Vater hat keinen Schimmer mehr, wie man Phosphat auf Chinesisch sagt, aber er freut sich auf die Fossilien.
12:03 Uhr
Die vier werden von einem großen LKW überholt.
12:04 Uhr
Die Mutter schließt die Augen.
12:05 Uhr
Die vier erreichen ein großes Gebäude, das irgendwie museal wirkt und auf dem sogar „Fossilien-Ausstellung“ steht.
12:06 Uhr
Die vier stellen fest: Das Museum hat zu. Fahrerin und Tochter steigen aus.
12:07 Uhr
Fahrerin und Tochter stehen etwas verwirrt vor dem verschlossenen Tor. Die Tochter ruft mit dem störrischen neuen Smartphone die Nummer auf dem Türschild an. Es geht niemand ran.
12:08 Uhr
Vater und Mutter steigen aus, blicken auf die Aussicht, heben Steine auf. Die Mutter macht Fotos. Der Vater mustert skeptisch das verschlossene Tor.
12:09 Uhr
Tochter und Fahrerin überlegen, was zu tun sei.
12:10 Uhr
Die Tochter ruft noch einmal bei der Nummer an. Wieder geht niemand ran. Die Fahrerin hält ein Auto an und fragt, wo es hier eigentlich zu den Fossilien ginge.
12:11 Uhr
Die Fahrerin winkt die Tochter herüber. Es sei doch noch ein Stückchen. Alles gut.
12:12 Uhr
Die drei Ausländer hoffen inständig, dass diese Fahrt nicht für die Katz war, und steigen in das klapperige Dreirad ein. Es geht los.
12:13 Uhr
Die Mutter schaut auf die Uhr.
12:14 Uhr
Der Vater erzählt etwas über die Gesteinsschichten, an denen die vier Helden vorbeifahren.
12:15 Uhr
Die vier werden von einem Trecker überholt.
12:16 Uhr
Die vier überholen ein Fahrrad. Die Mutter macht große Augen und blickt aus dem Heckfenster. Die Tochter wagt es nicht, sich umzudrehen. Ein Laster zieht vorbei.
12:17 Uhr
Aber dann! Die vier erreichen ein großes Tor. Alles gut! Es geht hier zu den Fossilien, es hat geöffnet, es ist sogar umsonst und trotzdem nicht gerade von Touristen überrollt. Alle vier Helden sind erleichtert, allen voran die Tochter. Die Mutter stellt fest, dass dieses Erlebnis Blog-Potenzial hat. Hat es!
Ja, das war Chengjiang. Die Kellerassel-Fossilien waren ganz nett, die Landschaft auch. Die Rückfahrt nach Chengjiang war nicht ganz so abenteuerlich wie die Hinfahrt.
Eure sich erdgeschichtlich bildende Charlotte